Mitten in der Gesellschaft

Mitten in der Gesellschaft angekommen.

Grenzüberschreitender Alltag der „mitgebrachten“ Kinder

Generation 1.5 von Spätaussiedlern: Alexandra Dornhof erforschte in ihrer Bachelorarbeit die Migrationserfahrung der Nachwuchsgeneration der Spätaussiedler/innen und ihren transnationaler Lebensstil. Zu welchen interessanten Ergebnissen sie dabei kam, erfahren Sie im folgenden Artikel von Alexandra.  

Als Kind einer Spätaussiedlerfamilie war ich immer mit mehreren Kulturen konfrontiert und wurde bilingual erzogen. Viele Jahre hatte ich keinen Kontakt zu unseren Verwandten nach Russland gepflegt. Durch den technischen Fortschritt war es plötzlich möglich mit der Tante oder ehemaligen Mitschülern auf schnellstem Wege in Verbindung zu kommen. Basierend auf persönlichen Migrationserfahrungen und meiner Zugehörigkeit zu der Migrantengruppe der Spätaussiedler fiel die Wahl des Forschungsproblems nicht zufällig auf die Nachwuchsgeneration der Spätaussiedler. Mein zunächst persönliches Interesse am Leben der Spätaussiedler wandelte sich allmählich zu einem wissenschaftlichen Forschungsvorhaben über transnationale Lebenspraktiken der Generation 1.5 von Spätaussiedlern.

In meiner Bachelorarbeit befasse ich mich mit den transnationalen Lebensbezügen von jungen, in Deutschland lebenden Menschen, die im Kindesalter gemeinsam mit ihren Eltern aus der GUS nach Deutschland migriert sind. Zu der Generation 1.5 gehören die genannten mitgebrachten Kinder der Spätaussiedler, solche wie ich. In Russland geboren und in Deutschland aufgewachsen. Mein Forschungsvorhaben bestand darin, Transnationalität am Beispiel der Migrationserfahrungen der Nachwuchsgeneration von Spätaussiedlern zu bearbeiten. Um es hier nochmal zu erwähnen, Menschen zählen nur dann zur Gruppe der Spätaussiedler, wenn sie ab dem 1. Januar 1993 in die Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind. Die Gruppe der Spätaussiedler ist durch ihre spezifische Geschichte und ihre deutsche Volkszugehörigkeit (gemäß § 4 Bundesvertriebenengesetz) deutlich von anderen Migrantengruppen zu unterscheiden. Transnationaler Lebensstil beschreibt einen permanenten Prozess der Grenzüberschreitung. Solche grenzüberschreitenden Lebensstile sind vor allem wegen der fortschreitenden Globalisierung, Modernisierung und des technischen Fortschritts interessant und gesellschaftlich relevant. Im 21. Jahrhundert wird eine neue Qualität wesentlich komplexerer sozialer Handlungsweisen im menschlichen Miteinander eintreten.

Mein Forschungsthema ist nicht nur aufgrund der immer schnelllebigeren und komplexer werdenden Lebensumstände interessant und relevant. Immerhin leben in Deutschland ca. 3,5 Millionen (Spät-)Aussiedler aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Davon sind laut des Mikrozensus aus dem Jahr 2011 1.447.000 Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion. Dies macht einen beachtlichen Anteil der deutschen Gesamtbevölkerung aus. Aufgrund neuer Technologien bieten sich den mitgebrachten Kindern vielfältige Möglichkeiten in Kontakt mit ihren Verwandten, Freunden oder ehemaligen Mitschülern in der GUS zu treten. Der Kontakt wird von den Befragten unter anderem gepflegt, weil sie so nicht Gefahr laufen ihren Herkunftsbezug zu verlieren. Dies scheint ein wichtiger Faktor für die Konstruktion ihrer Zugehörigkeit zu sein. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass die russischen Sprachkenntnisse der Nachwuchsgeneration eine wichtige Rolle spielen. Nur wenn diese Generation gewisse Russischkenntnisse aufweist, kann es überhaupt zu einer transnationalen Kommunikation kommen und erst dann können russischsprachige Medien sinnvoll konsumiert werden. Aber auch bei Aufenthalten im Herkunftsland sind die Spätaussiedler auf ihre Russischkenntnisse angewiesen.

Um meine Forschungsfrage beantworten zu können, habe ich fünf Spätaussiedler aus meinem Freundeskreis zu ihrer grenzüberschreitenden Lebenspraxis interviewt. Die Analyse der medialen, symbolischen sowie physischen Grenzüberschreitung meiner Interviewpartner hat dazu beigetragen, die individuellen Ausprägungen der transnationalen Lebenspraktiken zu erarbeiten. Zusammenfassend kann für die Nachwuchsgeneration der Spätaussiedler festgehalten werden, dass sich bei ihnen Sozialräume herauskristallisieren, die über nationalstaatliche Grenzen hinweg entstehen und aus vielfältigen grenzüberschreitenden Vernetzungen zwischen Ankunfts- und Herkunftsland bestehen.

In der Interviewanalyse ist mir ein Aspekt besonders aufgefallen. Die politische Ausrichtung der Untersuchungsgruppe lässt sich durch die Nutzung von russischen Informations- und Kommunikationsmedien beeinflussen. Interessant ist, dass die Untersuchungspersonen, soweit sie sich mit politischen Themen auseinandersetzen, den russischsprachigen Informationsmedien mehr Glaubwürdigkeit zusprechen als den westlichen/deutschen (der Begriff wird synonym verwendet). Die Informationen werden aus der Nutzung der russischsprachigen Medien bezogen und als Argumentation gegen die Meinung der Einheimischen verwendet, diese ist im Vergleich oftmals gegen die russische Politik gerichtet. Die Befragten betonen wiederholt die verzehrte Darstellung der politischen Ereignisse in Russland in den westlichen/deutschen Medien. Dadurch glauben sie, sehen sie sich in der Position eine Art Schutzfunktion für Russland einnehmen zu müssen. Es empfiehlt sich an dieser Stelle eine weitere Untersuchung zur politischen Ausrichtung von (Trans-)MigrantInnen.

In den qualitativen Interviews hat sich deutlich abgezeichnet, dass die Befragten ein bis zwei intensive Kontakte zu Personen in ihrem Herkunftsland pflegen. Neben den als eng charakterisierten Kontakten haben die Interviewpartner eine relativ schwache Verbindung zu weiteren Verwandten und Bekannten. Eine meiner Interviewpartner beschreibt diese Verbindungen als „Feiertagskontakte“. Schließlich kann festgehalten werden, dass alle Befragten private Kontakte in ihr Herkunftsland pflegen.

Die familiären Beziehungen bilden eine wichtige Bezugseinheit und werden zum Bindeglied zwischen Ankunfts- und Herkunftsland. Sie ermöglichen unter anderem die Bildung eines transnationalen Raumes.  An dieser Stelle ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass sich die Intensität der Kontakte in einer gewissen Abhängigkeit von individuellen Lebensphasen befindet. Vor allem bei einer Interviewperson konnte beobachtet werden, dass sich das zuvor große Interesse an ihren Verwandten in der GUS und der Erforschung ihrer „Wurzeln“ sich mit der Zeit in eine ablehnende Haltung gegenüber Verwandten und ihrem Herkunftsland gewandelt hat.

Mit Hilfe von transnationalen Ansätzen kann aufgezeigt werden, dass Migration keine lineare Wanderung von A nach B ist, sondern dass diese viel komplexer aufgebaut ist und von vielen Spätaussiedlern in Form von transnationalen Lebensstilen weitergelebt wird. Ich bin davon überzeugt, dass die Wanderung der deutschen Aussiedler nicht mit ihrer Rückkehr in ihre historische Heimat enden muss. Stattdessen nimmt diese neue Formen an, z.B. indem ich mit meiner Freundin Lena, die in Omsk lebt, über Odnoklassniki täglich in Kontakt komme, obwohl sich mein Lebensmittelpunkt in Deutschland befindet. Durch die Nutzung der modernen Kommunikationstechnologien haben wir die Möglichkeit geographische Distanzen zu überwinden und als ein wichtiges Verbindungsinstrument zwischen Ankunfts- und Herkunftsland nutzen.  

 

Alexandra Dornhof


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